Ein Blick über die Grenze

Ihre Toten beerdigen sie auch heute noch mitten in den Wiesen der Gärten. Ein einfacher, senkrecht in die Erde gesteckter Stein ist der einzige Hinweis auf das Grab. Kein Name, keine Grabumfassung, keine Blumen. Bis vor wenigen Jahren grasten Schafe um die Steine herum. Françoise weiß unter welchen Steinen ihre Ur-Ur-Großeltern, ihre Ur-Großeltern, Großeltern und Eltern ruhen. Und sie weiß, dass auch ihr Mann Lucien und sie eines Tages hier ihre letzte Ruhestätte finden werden. Diese Tradition stammt aus der Zeit, als Protestanten der (katholische) Friedhof verwehrt war.

Die Geschichte

In den Cevennen, im Südwesten des Languedoc, hat der Protestantismus eine lange Tradition. Calvin aber auch Luther haben die Bevölkerung dieses einsamen und wilden Landstrichs inspiriert, der von jeher fruchtbare Erde für neue Ideen war. Im 13. Jahrhundert lebten hier Katharer. Die französischen Könige haben ihre vom Katholizismus abtrünnigen Bürger von jeher als Ketzer verfolgt. Mit dem Edikt von Nantes setzte Henry IV 1598 den Religionskriegen, die Frankreich seit 1562 erschüttert und zahlreiche Hugenotten zur Flucht bewegt hatten, ein allerdings nur vorläufiges Ende. Ludwig XIV widerrief das Toleranz-Edikt 1685 und somit begann die Zeit des Untergrunds, in die Annalen der Cevennen eingegangen als Zeit der Wüste, „Il desert“. Im „Musée du Désert“ in Mialet lebt diese Zeit in zahlreichen Dokumenten wieder auf.

Im blutigen Kamisarden-Aufstand von 1702-1710 fand der Konflikt zwischen königlichen Truppen und der Bevölkerung der Cevennen, die mit Gewalt ihre Religionsfreiheit erkämpfen wollten, ihren Höhepunkt. Ganze Dörfer wurden zum Abschwören gezwungen oder dem Erdboden gleichgemacht. Die Pastoren wurden des Landes verwiesen oder umgebracht, Männer, die sich widersetzten hingerichtet, Frauen im Kerker von Aigue Morte eingesperrt, Kinder unter sieben Jahren in Klöstern verwahrt, die älteren Kinder teilten das Schicksal der Eltern. Wer sich nicht dem Diktat unterwarf, dem blieb als Alternative zu Tod und Kerker nur das Auswandern. Den Dienst der Pastoren übernahmen Laienprediger, sogenannte Propheten, die sich mit den Gläubigen in versteckten Waldgebieten und Grotten zum Gebet trafen.

Vergangenheit. Aber in der Erinnerung der Familien noch sehr lebendig. Als die heute 75jährige Françoise vor zehn Jahren an Krebs erkrankte, erzählt sie, gab ihr der Gedanke an Marie Durand Mut und Kraft. Die Schwester des Pastors Pierre Durand (hingerichtet 1732) wurde 1720 mit 19 Jahren in den Konstanzer Turm von Aigue Morte gesperrt und verließ ihr Gefängnis erst nach 38 Jahren. Abgeschworen hat sie nicht! Ins Krankenhaus hat Françoise ihre Familienbibel mitgenommen, in die schon ihre Ur-Großmutter fein säuberlich die Toten und die Neugeborenen eingetragen hat. Françoise hütet diese Bibel wie einen Schatz.

Die Erklärung der Menschenrechte während der französischen Revolution 1789 wurde von den Pastoren und den Gläubigen Protestanten der Cevennen und des Languedoc wie ein drittes Testament gefeiert, ein neues Buch der Bibel. Ab Dezember 1789 waren sie zumindest auf dem Papier als vollwertige Bürger Frankreichs mit allen Rechten und Pflichten anerkannt. Aber vorbei war der Terror trotzdem noch nicht: Im August 1815 nach dem endgültigen Fall Napoleons, wurden während Unruhen im Department Gard im Rahmen des „terreur blanche“, von Royalisten die letzten Protestanten (republikanischer Gesinnung) umgebracht.

Im 18. und 19. Jahrhundert waren die Dörfer der Cevennen trotz der religionsbedingten Unruhen gut besiedelt. Die Menschen gingen der Schafzucht nach, arbeiteten in den Silberminen oder betrieben Seidenraupenzucht und arbeiteten in den Spinnereien. Die Landschaft war (und ist es heute noch) geprägt von ausgedehnten Kastanienwäldern, Mittelmeereichen und Terrassen, den sogenannten „Bancels“, auf denen Saubohnen, Zwiebeln und anderes Gemüse angebaut wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Silberminen geschlossen, die Seidenraupenzucht geriet in Krise wegen eines Schädlings, der die Maulbeerbäume zerstörte, die Folge war eine massive Landflucht, rund 60% der Bevölkerung wanderte ab.

Die Protestanten heute

Heute gibt es in Frankreich etwa eine Million Protestanten, die meisten davon leben in der ehemals Languedoc – Roussillon genannten Region Okzitanien. Calvinisten. Eine lutherische Hochburg ist hingegen das Elsass, noch aus der Zeit, als es zu Deutschland gehörte. Seit der Synode von 2012 sind die Vereinigung der Reformierten Evangelischen und Lutherischen Kirche in Frankreich und die Unabhängige Reformierte Kirche in Frankreich in der Vereinten Protestantischen Kirche in Frankreich zusammengeschlossen.

Les Plantiers am Zusammenfluss der beiden gleichnamigen Flüsse Borgne gelegen, ist ein typisches Cevennendorf. Um 1850 zählte das Dorf 1.300 Einwohner, 1900 waren es noch 890. Heute sind es 260, im Sommer steigt die Zahl für zwei Monate auf 1.200. Das Hauptdorf liegt an der Brücke, unter der die beiden Flüsse sich verbinden, rundherum auf den Anhöhen verteilen sich zehn Weiler mit den für die Cevennen typischen, grauen Steinhäusern.

Die französischen Protestanten bezeichnen ihre Kirchen als Tempel. Der „temple“ von Les Plantiers wurde Ende des 19. Jahrhunderts erbaut. Ein, auch von außen, sehr schlichtes Gebäude. Ein Nachbar hütet den Schlüssel, ein Pfarrer lebt schon lange nicht mehr in Les Plantiers. Zu den Gottesdiensten, die alle zwei Wochen stattfinden, versammeln sich in der Regel 15 bis 20 Gläubige. Die Gottesdienste werden entweder von einem der beiden Pastoren gehalten, die auch für weitere sechs Gemeinden in den Nachbartälern zuständig sind oder von Prädikanten. Bis 2018 gehörte die kleine Gemeinde Les Plantiers noch der eher konservativ eingestellten Unabhängigen Reformierten Evangelischen Kirche von Frankreich an, seit 2018 hat sie sich der Vereinten Protestantischen Kirche in Frankreich angeschlossen, die seit 2012 Reformierte und Lutheraner vereint.

Wenn man die Kirchentür öffnet, führt eine Treppe in den kleinen Raum auf der Empore, der mittlerweile fast immer für den Gottesdient benutzt wird. Im Erdgeschoss befindet sich der eigentliche Kirchenraum: Schlichter geht es nicht. Zwei Doppelreihen Bänke, ein leerer, schmuckloser Altar, dahinter, in der Mitte des Raumes, eine Holzkanzel ohne jegliche Verzierung, an der Wand ein einfaches Holzkreuz. Fenster mit einfachen Scheiben. Keine Kerzen, kein Blumenschmuck. Nichts, was von der Verkündigung des Wort Gottes ablenken könnte. Am Karfreitag füllt sich die Kirche, weil dieser Tag mittlerweile zusammen mit den Katholiken begangen wird. Ebenso im Sommer, wenn das kleine Dorf sich mit Urlaubern füllt und mit Menschen, die hier geboren sind und mittlerweile woanders leben, aber im Sommer zu ihren Wurzeln zurückkehren. Junge Menschen finden sich nur sehr wenige unter den Gottesdienstbesuchern. Ein Schicksal wohl der meisten, wenn nicht aller Kirchen in Europa.

Interview

Glauben als trotzige Widerstandshaltung
Pierre Mourgue, Präsident der evangelischen Gemeinde von les Plantiers

Pierre Mourgue hat als Geologe über 30 Jahre in Afrika gelebt. Seine Großeltern stammten aus Les Plantiers. Sein Großvater Silvain Leron war Anfang des 20. Jahrhunderts Sekretär der Kirchengemeinde. Ende der 1990er Jahre nach seiner Rückkehr aus Afrika, hat Pierre Mourgue sich mit seiner Frau Noémie, einer Schweizerin, in dem alten Schloss im Zentrum von Les Plantiers niedergelassen, das seine Familie von jeher bewohnte. Seit 2002 steht er der Kirchengemeinde Les Plantiers als Präsident vor. In seiner Bibliothek hängen hinter dem Schreibtisch ein Portrait von Luther und eines von Napoleon. Bezugspunkte.

Monsieur Mourgue, wie ist es, Protestant in den Cevennen zu sein?

Pierre Mourgue: Es ist glaube ich eine historische Verantwortung. Die Familien hier sind sich alle noch sehr der Geschichte bewusst. Im Grunde sind erst 200 Jahre vergangen, dass die letzten Protestanten hier aufgrund ihres Glaubens den Tod gefunden haben. Wir halten an unserem Glauben fest, auch aus einer Art trotzigen Widerstandshaltung heraus.

Die Bevölkerung war und ist zum großen Teil immer noch eine Landbevölkerung, Bauern und Hirten.

Pierre Mourgue: Ja, aber es ist eine ländliche Bevölkerung, die schon von jeher des Lesens mächtig war und die sich von der heiligen Schrift sozusagen genährt hat. Das ist die Kraft des cevennolischen Protestantismus, der sich auf die Lektüre der Bibel begründet. Auch während der Zeit der Wüste trafen die Menschen zusammen, um gemeinsam die Bibel zu lesen. In den Häusern gab es Verstecke in den Mauern, wo die Familien ihre Bibeln verwahrten.

Haben Sie als Wissenschaftler je an Ihrem Glauben gezweifelt?

Pierre Mourgue: Ich war als junger Mensch nicht oft im Tempel. Aber geglaubt habe ich immer. Auch oder gerade auch als Wissenschaftler. Die Genesis ist genial: “ Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser…“. Das nimmt in gewissem Sinne die Evolution vorweg, wenn man es entsprechend zu interpretieren weiß. Die Bibel ist voll tiefer Wahrheiten und ich kann keinen logischen Fehler darin finden. Für mich persönlich ist das Bild des Lammes der rote Faden.

Sind Sie stolz darauf, Protestant zu sein? Stolz auf die Geschichte ihres Landes?

Pierre Mourgue: Ja, sehr sogar. Auch weil es im 19. Jahrhundert ja nicht aufgehört hat. Auch im zweiten Weltkrieg waren die Cevennen ein Ort des Widerstands, viele Partisanen kamen von hier, versammelten sich hier. Es gab sogar aus Deutschen bestehende Partisanengruppe, zumeist Kommunisten, die im spanischen Freiheitskampf gekämpft haben. Und worauf ich besonders stolz bin: Die Protestanten hier haben sehr viele Juden versteckt, Familien haben jüdische Kinder Pro-Form adoptiert. Die Cevennen sind die Region in Europa, wo es laut Israel die meisten „Gerechten unter den Völkern“ gibt, also Menschen, die von der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem ausdrücklich geehrt wurden, weil sie in den Jahren 1933 – 1945 Juden gerettet haben! Ich bin auch stolz, weil die protestantische Kirche sich ganz bewusst den Themen der Gesellschaft stellt: Klimawandel, Einwanderung, Gleichberechtigung, Ökologie, ethische und moralische Fragen. Sie analysiert die Fakten unserer Zeit mit protestantischem Geist.

Welchen Stellenwert hat die Ökumene?

Pierre Mourgue: Sagen wir so: Auf Gemeindegebiet ist sie nicht institutionalisiert. Aber wir haben seit den 60er Jahren mit dem Zuzug vieler italienischer Familien eine Zunahme der Katholiken in den Cevennen verzeichnet. Wir begehen traditionell den Karfreitag zusammen in unserem Tempel, im Kirchenchor des Tales sind beide Konfessionen vertreten. Wir veranstalten auf Regionalniveau regelmäßige Treffen mit der jüdischen Gemeinde. An unseren Bibelabenden nehmen viele Katholiken teil…

Im modernen Leben scheint die Kirche immer mehr an Interesse zu verlieren.

Pierre Mourgue: Das stimmt, auch wir haben wie alle Religionen Probleme, junge Menschen anzusprechen. Ich wünschte mir, dass die Menschen wieder mehr in der Bibel lesen.

 

Nicole Dominique Steiner

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