Der Menschensohn ist gekommen,
zu suchen und selig zu machen,
was verloren ist. (Lk 19,10)
Die Geschichten der Bibel, die sind wie Familiengeschichten.
Wir erzählen sie uns, um darin Heimat zu finden.
Wir erzählen sie aber auch, um die Geschichten und uns selbst heilsam zu verändern.
Am Sonntag der offenen Arme hören wir „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (Lk 15). Wer kennt es nicht?
Ein Vater – zwei Söhne. Eine Mutter scheint es nicht zu geben.
In der allgemeinen Deutung stehen die Söhne für die Menschen, der Vater für Gott.
Der Jüngere verlangt vorzeitig sein Erbe, geht in die Welt hinaus, macht nichts als Mist, verprasst sein Geld und kehrt reumütig zurück. Ganz unvermutet wird er vom Vater als Sohn wieder aufgenommen – und gefeiert.
Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden!
Sünder, aber gerettet.
Der ältere Sohn macht eigentlich alles richtig. Als jedoch sein Bruder, der die Familie im Stich gelassen und sich selber ins Unglück gestürzt hat, vom Vater mit offenen Armen wieder aufgenommen wird und obendrein ein Fest bekommt, reagiert er eifersüchtig und selbstgerecht.
Sünder, aber uneinsichtig?
Und was sagt der Vater?
Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder… war verloren und ist wiedergefunden.
Fehlt da nicht noch was…?
„Vom verlorenen Sohn“ ist das letzte von drei Gleichnissen, in denen Lukas vom Suchen und Finden erzählt.
Eins von 100 – das verlorene Schaf. Seinetwegen lässt der Hirte die 99 anderen zurück und sucht so lange, bis er es gefunden hat. 99 ist nicht 100.
Einer von 10 – der verlorene Groschen. Seine Besitzerin sucht ihn überall, bis sie ihn gefunden hat. 9 ist nicht 10.
Gott wird jeweils gedeutet als der, der das Verlorene sucht und findet.
Den verlorenen Sohn aber sucht keiner, der kommt von allein zurück.
Verloren bleibt der ältere Bruder. Der, der immer brav und fleißig ist und sich jetzt einfach nicht gesehen fühlt.
Deshalb ist für mich die Geschichte hier noch nicht zu Ende.
Gott sucht die Verlorenen.
Jede und jeden.
Die Familie ist erst wieder ganz, wenn auch der ältere Sohn in die offenen Arme seines Vaters zurückgekehrt ist.
Denn 1 ist nicht 2.
Für mich steht fest:
Der Vater macht sich nochmal auf zu seinem Erstgeborenen.
Er sucht sein Herz.
Denn er will ihn ganz zurückgewinnen.
99 ist nicht 100. 9 ist nicht 10. 1 ist nicht 2.
Bin ich das eine Schaf – oder eins von den 99?
Der eine Groschen – oder einer von den 9?
Der ältere Sohn – oder der jüngere?
Ob Schaf, Groschen oder Tochter – Gott wird mich wiederfinden.
Egal wo ich verloren gehe.
Catania, 15. Juni 2024, Sabine Kluger, Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde Sizilien