
Die befreiende Wahrheit
Jesus sagte: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Johannes 8,31–32)
Es gibt Worte, die uns verletzen – und Worte, die uns heilen. Worte, die uns festhalten – und Worte, die uns befreien.
Das wissen wir alle, auch ohne religiös zu sein. Ein Wort der Ermutigung, zur rechten Zeit gesprochen, kann einen ganzen Tag verändern. Ein Wort der Vergebung kann eine Beziehung wieder öffnen, die verloren schien.
Aber es gibt auch die Worte, die uns gefangen halten – die, die wir uns selbst sagen: „Ich bin nicht gut genug“, „Ich schaffe das nicht“, „Keiner versteht mich.“ Diese Sätze, immer wieder gedacht, werden zu unsichtbaren Ketten.
Jesus spricht in diesem Abschnitt des Johannesevangeliums von einem anderen Wort – von seinem Wort. Ein Wort, das, wenn man es hört und lebt, zur Wahrheit wird.
Und diese Wahrheit ist keine Theorie. Sie ist eine Beziehung, die befreit.
„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“
Frei wovon? Vielleicht von dem, was uns innerlich bedrückt: der Angst, Fehler zu machen, dem Urteil anderer, dem Zwang, immer etwas beweisen zu müssen.
In diesen Tagen denken viele Christinnen und Christen an die Reformation. Vielleicht klingt das nach Geschichte, nach etwas Vergangenem. Aber im Kern geht es auch da um Freiheit.
Vor über 500 Jahren hat ein Mönch namens Martin Luther im Evangelium etwas entdeckt, das sein Leben verändert hat: Gott verlangt nicht, dass wir perfekt sind, um uns zu lieben. Wir müssen uns seine Liebe nicht verdienen. Sie ist schon da – geschenkt, bedingungslos.
Diese Entdeckung machte Luther frei – frei von Angst, frei vom Druck, etwas leisten zu müssen.
Und vielleicht brauchen auch wir heute solche Freiheit.
In einer Welt, die uns ständig sagt: Sei besser, sei stärker, sei erfolgreicher – sagt das Wort Jesu: Du darfst einfach Mensch sein. Du darfst atmen.
Die Wahrheit, die frei macht, ist kein Gesetz und keine Meinung. Sie ist ein Blick, ein Moment der Nähe, in dem wir spüren: Ich muss mich nicht verstecken. Ich darf sein, wie ich bin.
Manche nennen das Glauben. Andere nennen es Liebe, Vertrauen oder Frieden. Aber in all dem klingt dieselbe Wahrheit: Wenn die Angst kleiner wird und das Herz weit, dann geschieht Befreiung.
Die Reformation ist kein Denkmal der Vergangenheit. Sie ist eine Einladung für heute.
Eine Einladung, das Wort zu hören, das befreit, das tröstet, das uns neu beginnen lässt.
Vielleicht ist heute genau der Moment, an dem du diese Worte brauchst:
„Du bist nicht festgelegt auf deine Fehler. Du bist größer als deine Angst.“
Vielleicht ist das die Wahrheit, die dein Herz wieder atmen lässt.
Und so können wir uns im stillen Moment fragen:
Welche Worte halten mich gefangen?
Und welche Worte könnten mich frei machen – zum Vertrauen, zum Leben, zum Atmen?
Pfarrer Andrei Popescu, Triest
Foto di Gerd Altmann da Pixabay