
Gaza: Dürfen wir uns noch Christen nennen?
Angesichts der Krise im Gazastreifen müssen Christen den Sinn des Glaubens und ihres Zeugnisgebens hinterfragen.
Gaza: Dürfen wir uns noch Christen nennen?
Es scheint, dass die Debatte über das Christentum – zumindest in Europa – nun auf die Überwindung des Christentums selbst hinausläuft. Die Zahlen sinken, die Kirchen werden zunehmend leerer, die Ressourcen schwinden. Welchen Sinn hat es also, heute Christ zu sein und vor allem, sich Christ zu nennen?
Theologen erinnern uns daran, dass es gerade heute umso mehr Sinn macht, Christ zu sein.
Es ist keine Frage der kulturellen oder nostalgischen Zugehörigkeit, sondern des geistigen Widerstandes. Schließlich ist das Christentum aus einer Niederlage entstanden: dem Kreuz. Von dort aus ist es zum Leben erwacht, hat sich vermehrt und hat gesprochen.
Vielleicht können wir aus der Vergangenheit zwei grundlegende Dinge lernen.
Erstens: Unterschätzen wir niemals die Stärke der Letzten, der Verfolgten, der Besiegten.
Zweitens: Vergessen wir nicht, was passiert, wenn sich das Christentum mit der Macht verbündet, sich ihr anpasst und sie stärkt, während es sich selbst verliert.

Ein Drama, das uns angeht
Inmitten der humanitären Katastrophe im Gazastreifen klingen die Worte der Kirchen heute eher wie vorsichtige diplomatische Appelle denn wie ein Echo evangelischer Radikalität.
Verurteilungen ja, aber mit vielen Ausnahmen. Obwohl es doch für alle sichtbar ist: Die Tragödie hat die Ausmaße eines Völkermords angenommen. Diesen Begriff nicht zu verwenden, schützt uns nicht, sondern setzt uns bloß.
Gerade hat die israelische Regierung die Errichtung von 22 neuen Siedlungen im Westjordanland genehmigt, die größte Ausweitung seit Jahrzehnten. Einige sind Wiederansiedlungen in einem Gebiet, das 2005 im Rahmen eines Rückzugplans von Israel geräumt worden war. Die erklärte Strategie? Die Palästinenser aus dem Gazastreifen vertreiben und die Kontrolle darüber übernehmen. Worte und Taten, die wir nicht stillschweigend hinnehmen können.
Das „erschütternde“ Evangelium in die Tat umsetzen
Und hier kommt der Glaube ins Spiel. Die Kirchen können sich nicht darauf beschränken, innerhalb der bestehenden geopolitischen Debatte nach Spielräumen zu suchen.
Das Wort der Kirchen muss erschüttern, Gewissheiten nehmen, unbequeme Fragen stellen.
Jede Christin und jeder Christ sollte sich fragen: Was kann ich tun?

Für Lutheraner ist diese Frage noch unangenehmer. Der lange Schatten des nationalsozialistischen Antisemitismus verlangt unsere Aufmerksamkeit und mahnt zum Gedenken, das ist wahr. Aber er darf nicht zu einer Lähmung führen.
Die Politik der israelischen Regierung zu verurteilen, ist kein Antisemitismus. Wer hingegen schweigt, läuft Gefahr, sich schuldig zu machen.
Deutschland rüstet auf, Israel radikalisiert sich, Palästina stirbt. Keiner dieser Fakten ist neutral. Weder untereinander, noch für uns.
Bewusstes Zeugnis
Wir sind eine kleine Kirche. Dessen sind wir uns bewusst. Aber wir sind auch eine Kirche, die an die Macht des Wortes glaubt, nicht an die eigene; an die Macht des Glaubens und der Gnade; an den Wert der Geste.
Wir wollen uns nicht auf ein Symbol, eine Flagge oder eine Spendenaktion beschränken. Wir wollen Verantwortung übernehmen und Zeugnis ablegen.
Das Evangelium ist nicht neutral. Es ist kein altmodischer Trost. Es ist ein Wort, das jede und jeden erschüttert, das uns unserer Gewissheiten beraubt und uns zwingt, in uns selbst und um uns herum zu blicken.
Wenn die Politik heute stottert, müssen die Kirchen den Mut haben zu sagen, „Es reicht!“.

Dem Hass trotzen
Der Zweck des Evangeliums besteht eher darin, alle und jeden unbefriedigt zu lassen. Uns mit unserer Sünde zu konfrontieren und uns die Ruhe der Privilegien und Protokolle unter den Füßen wegzuziehen.
Hier steht die Treue der Kirchen und der Gläubigen zur „guten Nachricht“, zum Wort Gottes auf dem Spiel.
Dieselbe gute Nachricht, die durch das Kreuz der Niederlage verkündet wird, die im Geheimnis der Flüchtenden geteilt wird und die auch unter der Gefahr von Gefängnis oder Schlimmerem verlautbart wird.
Da das Evangelium ein Wort für alle und jeden ist, ist es auch ein Wort, auf das nicht jede/r so weit reagieren kann, dass er/sie die Konsequenzen akzeptiert.

Als Lutheraner rufen wir die Gemeinden in Italien und die Schwestern und Brüder der evangelischen Kirchen auf, sich dem Hass zu widersetzen und ihn anzuprangern. Nicht um zu provozieren, sondern um unserem Glauben treu zu sein.
Um standhaft zu sein im Namen eines Evangeliums, das aus dem Kreuz geboren wurde, und nicht aus dem Konsens. Und das auch heute noch unter den Trümmern, unter den Leichen, unter den toten und verletzten Kindern, unter denen, die keine Stimme mehr haben, zu vernehmen ist.